Wenn wir versuchen, die physikalischen Gesetze der Natur zu untersuchen, dann sind wir gezwungen, Vereinfachungen vorzunehmen, um die unüberschaubare Vielfalt der Natur zu strukturieren und um uns auf die wesentlichen Aspekte konzentrieren zu können.
Was aber sind die wesentlichen Aspekte?
Das hängt davon ab, wofür wir uns interessieren. Wir wollen uns in diesem Kapitel für die dynamische Bewegung von Objekten interessieren. Dabei stellen wir uns vor, dass wir ein oder mehrere Objekte identifizieren können, sie voneinander unterscheiden und ihre Bewegung verfolgen können.
Das ist noch nicht präzise genug. Was ist ein Objekt? Was bedeutet es, seine Bewegung verfolgen zu können?
Stellen wir uns vor, wir interssieren uns für die Flugbahn einer kleinen Balles, der durch den Raum geschleudert wird. Klein bedeutet, dass wir uns nicht für seine Ausdehnung und seine Drehbewegungen interessieren, sondern dass wir wissen wollen, wo im Raum sich der Ball zu einem beliebigen Zeitpunkt befindet. Wir könnten uns den Ball durch einen winzigen Punkt ersetzt denken, um die Dinge, die uns nicht interessieren, von vorne herein wegzulassen. Man sagt, wir erstellen uns ein idealisiertes Modell.
Ob dieses Modell brauchbar ist, und wie weit wir damit kommen werden, können wir dabei nicht von vorne herein wissen. Wir müssen immer wieder zur wirklichen Situation zurückkehren und überprüfen, wie gut unser idealisiertes Modell die Wirklichkeit beschreibt.
Das übliche Modell, mit dem man in der Mechanik beginnt, sieht so aus:
Wir uns stellen die Objekte, für die wir uns interessieren (fliegende Bälle, kreisende Planeten etc.) idealisiert als Punkte im 3-dimensionalen euklidischen Raum vor. Jedem Objekt entspricht ein solcher Punkt. Als Verfeinerung können wir uns später auch vorstellen, ein Objekt durch mehrere irgendwie verbundene Punkte darzustellen, um seine Ausdehnung zu berücksichtigen. Zunächst wollen wir aber nur einen einzigen Punkt pro Objekt betrachten.
Ein Punkt hat den Vorteil, dass wir durch Angabe von 3 Zahlen seine Position im Raum festlegen können. Wir können damit sagen, wo sich das Objekt befindet.
Um nun die Bewegung eines Objektes beschreiben zu können, nehmen wir einen weiteren Parameter hinzu, der die Zeit repräsentiert. Durch Angabe von 4 Zahlen (3 Raumkoordinaten und eine Zeitangabe) können wir genau sagen, wann sich das Objekt wo befindet.
Weiterhin wollen wir annehmen, dass sich der Ort des Objektes mit der Zeit nicht sprunghaft ändert. Wir können die Bewegung des Objektes genau verfolgen, d.h. seine Raumkoordinaten (darstellbar durch einen dreidimensionalen Vektor \(\boldsymbol{x} = (x_1, x_2, x_3) \) ) hängen stetig von der Zeit \(t\) ab. Wir können die Flugbahn somit als stetige Funktion \(\boldsymbol{x}(t)\) darstellen.
Flugbahnen oder Bahnkurven ermöglichen es uns auch, ein einmal identifiziertes Objekt auch zu anderen Zeiten wiederzuerkennen, einfach indem wir seinen Weg verfolgen. Schwierig könnte es nur werden, wenn wir zulassen, dass sich zwei Objekte zu einem Zeitpunkt zufällig am gleichen Ort befinden können, dass sie also zusammenstoßen. Hier könnte unser Modell möglicherweise versagen.
So selbstverständlich uns das alles erscheint, es ist keineswegs selbstverständlich! Wenn man die Wirklichkeit sehr genau betrachtet, ist es sogar schlichtweg falsch! Wir werden im Rahmen der Quantenmechanik nochmal darauf zurückkommen.
Dennoch werden wir sehen, dass man mit diesen Annahmen sehr weit kommen kann. Wir dürfen nur nicht den Fehler machen, unser Modell und die Wirklichkeit miteinander zu verwechseln.
Machen wir also weiter und fragen uns, wodurch die Bewegung eines solchen Punktobjektes eigentlich festgelegt wird. Warum bewegt sich das eine Objekt vielleicht geradeaus, während ein anderes Objekt eine Kreisbahn beschreibt? Beeinflussen sich Objekte gegenseitig?
Mathematisch gesprochen suchen wir nach einer Differentialgleichung für die Bahnkurve \(\boldsymbol{x}(t)\).
Um diese Differentialgleichung zu erhalten, geht man in der Mechanik nun normalerweise so vor:
Wir führen zwei neue Begriffe ein: die Masse \(m\) des Objektes und die Kraft \(\boldsymbol{F}\), die an einem Ort auf das Objekt wirkt. \(\boldsymbol{F}\) ist dabei ein dreidimensionaler Vektor, was wir durch Fettdruck kennzeichnen wollen. Von der Masse \(m\) nehmen wir an, dass sie eine konstante innere Eigenschaft des Objektes ist, die charakteristisch für das Objekt ist. Dann formulieren wir das Newtonsche Gesetz der Mechanik \[ \boldsymbol{F} = m \, \boldsymbol{a} \] wobei die Beschleunigung \(\boldsymbol{a}\) die zweite Ableitung der Bahnkurve \(\boldsymbol{x}(t)\) nach der Zeit ist und damit die zeitliche Änderung der Geschwindigkeit \(\boldsymbol{v}\) angibt: \begin{align} \boldsymbol{a} &= \frac{d \boldsymbol{v}}{dt} = \frac{d^2 \boldsymbol{x}}{dt^2} \\ & \\ \boldsymbol{v} &= \frac{d \boldsymbol{x}}{dt} \end{align} Wir sagen also: Ein Körper wird beschleunigt, wenn eine Kraft auf ihn einwirkt, wobei eine innere Eigenschaft des Körpers, die wir Masse nennen, angibt, wie stark er bei vorgegebener Kraft beschleunigt wird.
Was haben wir nun damit gewonnen? Zunächst haben wir einfach nur 2 neue Begriffe eingeführt, und sie mit der zweiten zeitlichen Ableitung der Bahnkurve verknüpft. Das Ganze macht nur dann Sinn, wenn die Kraft \(\boldsymbol{F}\) eine physikalisch sinnvolle Größe ist, d.h. wenn wir unabhängig von der obigen Gleichung noch etwas Anderes über sie wissen. Beispielsweise könnte es möglich sein, in bestimmten Situationen eine Formel für die Kraft zu ermitteln, durch die sie sich als eine Funktion des Ortes des Objektes schreiben lässt. Die Kraft am Ort des Objektes ließe sich dann berechnen und für jeden Ort in die Formel \(\boldsymbol{F} = m \, \boldsymbol{a}\) einsetzen.
Damit wäre die Formel \(\boldsymbol{F} = m \, \boldsymbol{a}\) zu der gesuchten Differentialgleichung für die Bahnkurve \(\boldsymbol{x}(t)\) geworden: \[ \boldsymbol{F}(\boldsymbol{x}(t)) = m \, \frac{d^2}{dt^2} \boldsymbol{x}(t) \] mit vorgegebener ortsabhängiger Kraft-Funktion \(\boldsymbol{F}\) und gesuchter Bahnkurve \(\boldsymbol{x}(t)\) (bei Reibungskräften oder magnetischen Kräften kann \(\boldsymbol{F}\) auch noch von der Geschwindigkeit \(\boldsymbol{v}\) abhängen.
Aus der Mathematik wissen wir, dass man eine solche Differentialgleichung zweiter Ordnung im Normalfall eindeutig lösen kann, wenn zu einem festen Zeitpunkt \(t_0\) der Ort \(\boldsymbol{x}(t_0)\) und die Geschwindigkeit \(\boldsymbol{v}(t_0)\) bekannt sind. Die Bahnkurve lässt sich also dann berechnen.
Wie steht es mit der Masse des Objektes? Ist auch diese nun irgendwie näher bestimmt? Das hängt wiederum davon ab, was wir über die Kraft wissen.
Nehmen wir an, dass wir eine Kraft gefunden haben, die unabhängig vom Ort ist und in \(x\)-Richtung gerichtet ist. Weiter soll die Kraft unabhängig von der Masse \(m\) des Objektes sein (also z.B. keine Gravitationskraft). Woher wissen wir das über die Kraft? Wie können wir messen, dass es so ist?
Dass die Kraft konstant ist, können wir aus der Bewegung des Objektes ableiten, das gleichmäßig in \(x\)-Richtung beschleunigt. Ob die Kraft unabhängig von der Masse des Objektes ist, können wir ohne weitere Informationen nicht ableiten, da wir dazu die Bewegung verschiedener Objekte mit unterschiedlicher Masse unter dem Einfluss der Kraft beobachten müssten. Wir haben aber noch gar keine Messvorschrift für die Masse eines Objektes und können somit noch gar nicht wissen, ob zwei Objekte verschiedene Masse haben. Eine solche Messvorschrift wollen wir ja gerade erst erarbeiten.
Wir müssen also explizit annehmen, dass die spezielle Kraft, die wir betrachten, unabhängig von der Masse des Objektes ist. Diese Annahme müssen wir versuchen, durch andere physikalische Beobachtungen zu stützen, die außerhalb des bisher besprochenen Rahmens liegen.
Setzen wir also nun eine konstante Kraft in \(x\)-Richtung in die Bewegungsgleichung ein und beobachten die Beschleunigung zweier Objekte mit Massen \(m_1\) und \(m_2\) unter dem Einfluss der Kraft. Den Fettdruck für Kraft und Beschleunigung können wir hier weglassen, da sie alle in \(x\)-Richtung liegen und ihre Stärke durch reelle Zahlen ausgedrückt werden kann. Die Bewegungsgleichungen für die beiden Objekte lauten dann: \[ F = m_1 \, a_1 \] \[ F = m_2 \, a_2 \] Da es in beiden Fällen dieselbe konstante Kraft \(F\) ist, die auf die beiden Objekte wirkt, können wir die beiden Gleichungen gleichsetzen und erhalten \[ m_1 \, a_1 = m_2 \, a_2 \] oder umgestellt \[ \frac{m_1}{m_2} = \frac{a_2}{a_1} \] Das ist eine Messvorschrift für die Masse eines Objektes! Wenn wir beispielsweise sehen, dass Objekt 1 doppelt so schnell beschleunigt wird wie Objekt 2 (das können wir anhand der Bahnkurven erkennen), so wissen wir nun, dass die Masse von Objekt 1 nur halb so groß ist wie die von Objekt 2.
Ist das wirklich eine Messvorschrift? Wo bleibt die Maßeinheit? Nun, die Maßeinheit könnten wir auf die folgende Weise festlegen:
Wir nehmen uns einen beliebigen Stein, nennen ihn UNSER LIEBLINGSSTEIN und definieren, dass die Masse dieses Steins genau 1 LSM beträgt (sie haben es sicher erraten, dass LSM für Lieblingssteinmasse steht). Stellen wir nun beispielsweise fest, dass ein anderes Objekt unter dem Einfluss der konstanten Kraft nur halb so schnell beschleunigt wird wie UNSER LIEBLINGSSTEIN, so sagen wir, er habe die Masse 2 LSM. Gemeint ist damit, dass er die doppelte Masse wie UNSER LIEBLINGSSTEIN besitzt.
Sie meinen, das hört sich alles etwas merkwürdig an? Nun, genau so ist die Masseneinheit KILOGRAMMM (kg) definiert, nur dass man statt des Steins ein Stück Metall nimmt, das sorgfältig in einem Tresor aufbewart wird. Dieses Stück Metall bezeichnet man auch als Urkilogramm (heute ist das Kilogramm unabhängig von diesem Urkilogramm definiert, aber es geht immer noch eine ganz bestimmte Vergleichsmasse, die man über bestimmte Methoden realisieren kann).
Warum erzähle ich Ihnen das nun alles? Vielleicht sagen Sie ja, dass Sie das Grundgesetz der Mechanik bereits seit vielen Jahren kennen, und dass das ja nun wirklich elementare Grundlagen sind. Kann so etwas noch interessant sein?
Wenn die Zusammenhänge wirklich so einfach und elementar sind, wieso ist es erst Sir Isaac Newton im Jahre 1685 gelungen, sie aufzudecken? Der Grund liegt darin, dass die Wahl der richtigen Begriffe und die Formulierung der richtigen Gleichung keineswegs auf der Hand liegen!
Wir hätten ja auch auf die folgende Idee kommen können (das Beispiel stammt von Richard Feynman): Wir sagen: Wenn ein Körper sich mit konstanter Geschwindigkeit \(\boldsymbol{v}\) bewegt, so wirkt eine Schmaft \(\boldsymbol{S}\) auf ihn, die diese Bewegung verursacht. Die Geschwindigkeit ist dabei proportional zur wirkenden Schmaft. Eine innere Eigenschaft des Körpers, die wir mit dem Buchstaben \(b\) abkürzen, gibt dabei an, wie groß seine Geschwindigkeit bei vorgegebener Schmaft ist.
Das entsprechende Bewegungsgesetz lautet demnach \[ \boldsymbol{S} = b \, \boldsymbol{v} \] Es gibt zunächst keinen Grund, warum wir nicht so vorgehen sollten. Im Gegenteil: die Erfahrungen mit unserer Umwelt legen ein solches Gesetz sogar nahe! Schließlich bleibt ein Auto stehen, wenn der Tank leer ist und der Motor keine Schmaft mehr erzeugt, die das Auto in Bewegung hält.
Dennoch gelingt es nicht, mit einem solchen Gesetz ein tragfähiges Modell für Bewegungen aufzubauen, wie viele vergebliche Versuche über Jahrhunderte hinweg gezeigt haben. Der Begriff der Schmaft taugt offenbar nichts, wenn wir nach einer Größe suchen, die eine Bewegung von außen beeinflusst. Es gelingt normalerweise nicht, einfache Gesetze für die Schmaft zu finden, um diese beispielsweise als Funktion des Ortes darzustellen.
Es dauerte sehr lange, bis man den zentralen Irrtum erkannte: Ein Körper, auf den nichts einwirkt, bremst nicht etwa ab, sondern er bewegt sich geladlinig-gleichförmig mit konstanter Geschwindigkeit. Erst wenn man dieses Trägheitsgesetz erkennt, kann man die richtigen Begriffe formulieren und Newtons Bewegungsgesetz formulieren. Es ist aber keineswegs einfach, das Trägheitsgesetz zu entdecken, denn in unserem Umfeld gibt es praktisch keine Objekte, auf die nichts einwirkt.
Kehren wir zurück zum Newtonschen Kraftgesetz. Wir haben gelernt, dass wir nur weiterkommen, wenn wir etwas über die Kräfte aussagen können, die auf die Objekte einwirken.
Nun sind die Erscheinungen in unserer Umwelt sehr vielfältig, und entsprechend vielfältig sind auch die Kräfte, die wir finden. Es gibt die Schwerkraft, es gibt elektrische und magnetische Kräfte, es gibt Reibungskräfte und so fort. Um weiterzukommen, müssen wir uns auf bestimmte Grundformen der Kraft konzentrieren, die zusätzlich mit unseren bisherigen Annahmen harmonieren sollten. Wir wollen also unser bisheriges Modell präzisieren und eine bestimmte Sorte von Kräften betrachten in der Hoffnung, damit möglichst viele der physikalischen Phänomene beschreiben zu können.
Wir wollen annehmen, das Kräfte immer von physikalischen Objekten ausgehen und auf andere physikalische Objekte einwirken – und umgekehrt. Physikalische Objekte sollen sich also gegenseitig über Kräfte beeinflussen.
Um diese Aussage genauer zu fassen, betrachten wir in unserem Modell zwei punktförmige Objekte (nennen wir sie im Folgenden Körper oder auch Teilchen), die sich zur Zeit \(t\) an den Orten \(\boldsymbol{x}_1\) und \(\boldsymbol{x}_1\) befinden. Wir wollen annehmen, dass die Kraft \(\boldsymbol{F}_{2,1}\), die Teilchen 1 auf Teilchen 2 ausübt, gerade entgegengesetzt gleich der Kraft \(\boldsymbol{F}_{1,2}\) ist, die Teilchen 2 auf Teilchen 1 ausübt, also \[ \boldsymbol{F}_{2,1} = - \boldsymbol{F}_{1,2} \] Newton hatte diesen Zusammenhang in seinem Gesetz actio gleich reactio zusammengefasst. Man kann es auch so ausdrücken: Es ist unmöglich, sich an den eigenen Haaren aus dem Sumpf zu ziehen.
Diese Annahme, die wir für die Kraft zwischen zwei Teilchen getroffen haben, scheint recht natürlich zu sein. Sie erweist sich auch in vielen Fällen als richtig. Wenn man jedoch sehr genau hinsieht, so findet man für kurze Zeiten auch Abweichungen von diesem Gesetz. Diese Abweichungen hängen mit der endlichen Ausbreitungsgeschwindigkeit physikalischer Wirkungen zusammen. Wir gehen erst in einem späteren Kapitel darauf ein.
Kehren wir zurück zu unserem Modell und sehen, wohin es uns führt.
Wir wollen an dieser Stelle einen neuen Begriff definieren: den Impuls. Wir definieren den Impuls \(\boldsymbol{p}\) eines Teilchens als das Produkt seiner Masse \(m\) und seiner Geschwindigkeit \(\boldsymbol{v}\) \[ \boldsymbol{p} := m \, \boldsymbol{v} \] wobei der Impuls ein Vektor parallel zum Geschwindigkeitsvektor ist. Es ist interessant, dass diese Gleichung genauso aussieht wir die Gleichung für die von uns erfundenen Schmaft. Wir werden bald sehen, dass der Impuls einen völlig anderen Charakter als die Kraft bzw. Schmaft besitzt: er benimmt sich nicht wie eine Größe, die die Bewegung von außen beeinflusst.
Was haben wir nun durch diese Definition gewonnen? Zunächst einmal können wir über die Gleichung \(\boldsymbol{F} = m \, \boldsymbol{a}\) den Impuls mit der Kraft in Beziehung setzen. Es ist \[ \boldsymbol{F} = \frac{d\boldsymbol{p}}{dt} \] denn die Masse \(m\) ist in unserem Modell eine zeitunabhängige Konstante. Die zeitliche Änderung des Impulses eines Teilchens wird also durch die Kraft bestimmt, die auf das Teilchen wirkt.
So weit, so gut, aber bisher haben wir immer noch nicht viel gewonnen. Betrachten wir also wieder unsere zwei Teilchen, die miteinander wechselwirken (d.h. die eine Kraft aufeinander ausüben). Untersuchen wir, wie sich die Summe der beiden Teilchenimpulse im Lauf der Zeit ändert. Rechnen wir also einmal die zeitliche Änderung dieser Summe aus. Es ist \[ \frac{d}{dt} (\boldsymbol{p}_1 + \boldsymbol{p}_2) = \] \[ = \frac{d\boldsymbol{p}_1}{dt} + \frac{d\boldsymbol{p}_2}{dt} = \] \[ = \boldsymbol{F}_{1,2} + \boldsymbol{F}_{2,1} = 0 \] wegen actio gleich reactio. Wir haben also eine physikalische Größe gefunden, die bei beliebigen Teilchenbewegungen immer konstant bleibt, solange actio gleich reactio gültig ist. Wir haben entdeckt: die Summe der Teilchenimpulse ist konstant. Man spricht deshalb auch von der Erhaltung des Gesamtimpulses oder kurz von der Impulserhaltung.
Solche Entdeckungen haben sich in der Physik immer als sehr fruchtbar erwiesen. Wir können das neue Gesetz beispielsweise nutzen, um etwas über den Zusammenstoß von Teilchen auszusagen, ohne dass wir dazu die genauen Teilchenbahnen während des Wechselwirkungsprozesses kennen müssten.
Wir haben die Impulserhaltung aus dem Newtonschen Bewegungsgesetz \(\boldsymbol{F} = m \, \boldsymbol{a}\) mit konstanter Masse \(m\), der Impulsdefinition \(\boldsymbol{p} = m \, \boldsymbol{v}\) und dem Prinzip actio gleich reactio hergeleitet. Es stellt sich jedoch heraus, dass das Gesetz der Impulserhaltung weit über den Bereich hinausgeht, in dem das Newtonsche Bewegungsgesetz anwendbar ist. Der Impuls scheint vielmehr eine universelle Größe in der Physik zu sein, die man in allen Bereichen der Physik wiederfindet. Eine ebenso universelle Größe ist die Energie, auf die wir bisher noch nicht eingegangen sind.
Daher wollen wir im nächsten Abschnitt den Impuls nicht über \(\boldsymbol{p} = m \, \boldsymbol{v}\) definieren und die Impulserhaltung über den Kraftbegriff und actio gleich reactio herleiten. Wir werden umgekehrt vorgehen und die Impulserhaltung voraussetzen, um auf diese Weise zu einer Messvorschrift und somit zu einer direkten Definition des Impulses zu gelangen. Wir werden den Impuls als physikalische Grundgröße definieren in der Hoffnung, dass diese Definition über weite Bereiche der Physik hinweg brauchbar bleibt. Anschließend werden wir gewisse Zusatzannahmen machen, um schließlich unter anderem auch wieder bei der Formel \(\boldsymbol{p} = m \, \boldsymbol{v}\) anzukommen.
Damit werden wir uns allerdings nicht zufrieden geben. Wir werden untersuchen, welche anderen Zusatzannahmen ebenfalls sinnvoll (oder sogar besser) sein könnten, und damit zu ganz anderen Formeln für den Impuls gelangen. Legen wir also los!
© Jörg Resag, www.joerg-resag.de
last modified on 15 June 2023